10 Jahre Muskelschwund: Lügen, Leben, Erdbeben & Akzeptanz

Good old Salzburg, Austria. Noch zwei Stunden und ich bin 30. Krass, 30. Krass, wie schnell die letzten 10 Jahre einfach im Flug vergingen. Das heißt jetzt also, dass meine 20er Jahre vorbei sind. Bin ich jetzt also alt? Naja, älter als noch mit 20 auf jeden Fall. Diese letzten 10 Jahre haben mein Leben sowas von verändert. Gut, das sagt wohl jeder und es trifft auch bei jedem zu. Ich mein, klar, mit 20 versucht man gerade mal auf eigenen Beinen zu stehen und mit 30 steht man hoffentlich schon lange richtig auf den eigenen Beinen und lässt sich von nichts mehr so leicht umwerfen…

Achtung: Wortwitz. Obwohl ich mittlerweile mit beiden Beinen mitten im Leben stehe, lass ich mich dennoch relativ leicht umwerfen – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ein kleiner Windstoß, ein kleiner Schubser, eine Unebenheit im Boden bringen mich mittlerweile zu Fall. Das war noch vor 10 Jahren nicht so. Vor 10 Jahren konnte ich zwar auch schon nicht mehr rennen, aber es wusste keiner von meiner Beeinträchtigung. Damals konnte ich es noch relativ gut verbergen.

Ich erinnere mich noch gut an die Geburtstagsparty einer lieben Freundin, sie wohnte in der Linzergasse, in einem alten Gebäude, im zweiten Stock. Ich kam später, sodass ich die Treppen alleine hoch konnte, ohne lästigen Fragen nach dem Motto „Was’n mit dir los? Warum kannst du keine Treppen normal steigen?“ ausgesetzt zu sein. Ich hatte 1,5 Stockwerke geschafft und wollte gerade ums Eck die nächsten & letzten 10 Stufen nehmen, da sehe ich, dass am Treppenabsatz ca. 10 Leute stehen und quasi auf’m Flur Party machen. Na toll… Was macht die damals noch total unsichere (in Bezug auf ihre Krankheit) Kathi? Sie geht wieder nach Hause, ruft ihre Freundin an und sagt, ihr ginge es nicht gut.

Diagnose: Muskelschwund, Zukunft ungewiss

SmileSolche Situationen gab es früher viele. Keiner sollte davon wissen. Nicht mal ich wusste, was mit mir los ist. Ich hatte Angst, zum Arzt zu gehen. Aber irgendwann musste ich dann doch mal etwas unternehmen. Diagnose: Muskelschwund, Zukunft ungewiss. #geil

Mit 21 ging’s dann für ein halbes Jahr nach Málaga – ERASMUS. Man war das eine geile Zeit. Noch so richtig ausgelassen feiern. Ich war ja eher die Party-Queen, die sonntags bis freitags die Stadt unsicher machte. Samstags war mir zu viel los. Das war mein Tag Pause. Diese Zeit hat mein Leben definitiv verändert. Ein Teil meines Herzens liegt noch heute am Strand in Málaga. Und gut, dass ich dort so konsequent Spanisch gelernt habe. Sonst wäre ich heute mit meinem Südamerikaner wohl aufgeschmissen…

Der rettende Engel

Dann, mit Anfang/Mitte 20 kam diese Phase, in der man es mir langsam anmerkte (nicht mehr nur beim Treppen steigen) und ich es meinem Umfeld mitteilte. Nach wie vor fiel es mir schwer, damit umzugehen. Ich fiel oft hin und schaffte es auch das ein oder andere Mal nicht mehr alleine aufzustehen. Ich sehe mich noch heute auf’m Bürgersteig in der Nähe meines ehemaligen Arbeitsplatzes liegen. Da war weit und breit nichts zum Festhalten und Hochziehen. Aber ein Auto nach dem anderen fuhr an mir vorbei. Ich weinte. Ich war verzweifelt. Ich mein, wie scheiße ist so eine Situation bitte? Du liegst auf’m Boden und kommst eigenständig nicht wieder hoch. Irgendwann kam er, mein rettender Engel. Ein junger Bursch stieg mit Gipsfuß aus seinem Auto, kam angehumpelt und half mir auf…

Und dann kamen da diese Gedanken: „Was, wenn ich in 5 Jahren im Rollstuhl sitze?“ Diese 5 Jahre wären jetzt vorbei. Ich sitze nicht im Rollstuhl, aber er steht im Keller. Er ist da, sollte ich ihn brauchen. Ja, würde ich mich in den Rolli setzen, würde ich definitiv mehr sehen, könnte mehr unternehmen, wäre mobiler. Aber sitz ich einmal, werd ich bequem. Irgendwie will ich, so lange es geht, noch selbst laufen.

Kathi & Sams quer durch Südamerika

Weihnachten 2016 am Strand von Australien
Weihnachten 2016 am Strand von Australien

Tja, und mit diesem Gedanken an einen möglichen Rolli entschied ich mich für meine Weltreise. Ich schloss mein Masterstudium ab, kündigte meinen Job & machte mich auf. Und es war die einzig richtige und vor allem beste Entscheidung in meinem Leben. Ja, manchmal denk ich mir „ach man, andere sind schon so weit im Leben, und ich?“ – aber hey, die haben vielleicht Kind & Haus, aber das kann ja jeder 🙂 Wer mit Muskelschwund reist um die Welt, kauft sich ein Auto in Chile (Sams – mein treuer Gefährte) und durchquert Südamerika allein (als Frau)? Ich glaub darauf kann ich ziemlich stolz sein, denn weglaufen hätte ich nicht können, wäre was gewesen… 🙂

Und aus einem geplanten Jahr wurden knapp 3. #läuftbeimir
In dieser Zeit hab ich meinen wunderbaren Mann kennengelernt, der mich zusammen mit meiner Behinderung im Schlepptau akzeptiert und genau so nimmt, wie ich bin. Mei, manchmal muss er mir hald vom Klo aufhelfen, wenn ich nicht mehr allein hochkomme. Ganz ehrlich, manche Klos sind aber auch abartig tief gebaut – achtet da mal drauf! Ja und manchmal, wenn ich falle, setzt er sich zu mir auf den Boden und wartet zusammen mit mir, bis ich mich wieder gefangen hab, bevor er mich rucki zucki wieder auf meine Beine stellt. So Männer findet man auch nicht an jeder Straßenecke…

Erdbeben & Vergewaltigungen

Bloukrans Bridge, Südafrika
Bloukrans Bridge, Südafrika

Ich bin von der höchsten Brücke der Welt gesprungen (man hab ich Eier), ich war im Epizentrum eines Jahrhundert-Erdbebens und bin seitdem reeeeelativ routiniert, wenn’s mal wieder bebt in Chile & Co. (in Chile täglich mehrere Male). Ich werd zwar nach wie vor hysterisch, aber mei. Ich hab auf der Reise Freunde fürs Leben gefunden, achso und ich war ca. 6 Mal (insg. gut 6-7 Monate) bei einem Heiler in Brasilien, der – wie sich vor Kurzem rausstellte – gut 500 Frauen vergewaltigt hat. Dennoch möchte ich diese Zeit nicht missen. Sie hat mich einiges gelehrt, ich konnte meine spirituelle Seite entdecken und an mir arbeiten.

Ich könnte jetzt noch 100 Beispiele von Stürzen, hilfsbereiten Menschen und aussichtslosen Situationen berichten (haha – einmal hab ich in der Wüste Boliviens in eine Wassertonne gepinkelt, weil kein Klo weit und breit in Sicht war). Was ich aber sagen möchte, ist, dass ich gewachsen bin in den letzten 10 Jahren. Ich habe dieses Jahrzehnt mit den ersten Anzeichen eines Muskelschwunds gestartet und beende es mit starken Einschränkungen. Nichtsdestotrotz blicke ich nach vorne. Das ist mein Päckchen, das mir aufgetragen wurde. Und wie haben wunderbare Wesen mal zu mir gesagt:

„Wenn du rennen könntest, würdest du die Bienen und Blumen nicht sehen können…“

In diesem Sinne: Prost, auf die nächsten 10 geilen Jahre.

In Liebe,

eure 29-jährige Kathi 🙂

PS: Vielleicht hab ich ja jetzt mit 30 Lust, diesen Blog wieder aufleben zu lassen 🙂

Post Autor
Kathi

Kathi - immer fröhlich, gut gelaunt und meist mit einem Lächeln auf den Lippen anzutreffen. Verliebt in Spanien, leicht zum Lachen zu bringen, optimistisch und pünktlich...



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